Donnerstag, 17. November 2022, 20 Uhr
Stefan Zweifel (Zürich)
„Ich habe Sade geliebt“: Surreale Geschichten des Auges vom Marquis de Sade bis Luis Buñuel
Wie sich die skandalöseste Manuskriptrolle in eine ähnlich skandalisierende Filmrolle verwandelte? 1785 notierte der Marquis de Sade während seiner Kerkerhaft in der Bastille 600 Perversionen auf kleine Zettel, die er zu einer zwölf Meter langen Rolle zusammenklebte und vor den Gefängniswärtern in einem Dildo versteckte. Diese Zettel wurden der Nachwelt in dem Buch Die 120 Tage von Sodom überliefert. Seine Nachfahrin Marie-Laure de Noailles erwarb die Rolle im Auftrag der Surrealisten, die Sade als „göttlichen Marquis“ verehrten. In ihrem Stadtpalais befand sich der erste private Kinosaal Paris. Sie finanzierte die Filme von Man Ray und Luis Buñuel.
Nach UN CHIEN ANDALOU (1929) krönte Buñuel die Hommagen der Surrealisten (Gedichte, Gemälde, Statuen) an den Marquis de Sade mit L’ÂGE D‘OR (1930): Sades Lustmörder aus den 120 Tagen wandeln als Jesus-Gestalten über die Zugbrücke von Schloss Silling. Fetischisierung, Traumlogik und die Schockästhetik durchziehen beide Filme. Der berühmte Schnitt durch das Auge mit der Rasierklinge wurde zur Ikone einer neuen Sehweise der Welt: das Heterogene, das von der homogenisierenden Vernunft verdrängt wird, steigt in Form von Sexualität, Gewalt und Zufall ins Bewusstsein der Moderne.
Stefan Zweifel ist ein Übersetzer (Jean-Jacques Rousseau, Raymond Roussel, Marquis de Sade) und Journalist aus Zürich.
Vortrag in deutscher Sprache
Filme: UN CHIEN ANDALOU (FR 1929, 21 Min.), L’ÂGE D’OR (FR 1930, 63 Min.)